Migrationslage Ost – Einsatzkonzept «Refugio»

Was tun, wenn die Anzahl der illegalen Einreisen kontinuierlich zunimmt? Die Kantonspolizei St.Gallen greift auf ein eigens für solche Ereignisse erstelltes Einsatzkonzept zurück: «Refugio» legt den Fokus auf die menschenwürdige und rechtmässige Abarbeitung der Fälle innerhalb eines Tages.

Seit dem Sommer 2021 registrierten das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) sowie die Kantonspolizei St.Gallen an der Ostgrenze zunehmend illegale Einreisen von jungen afghanischen Staatsangehörigen. Obwohl diese vorwiegend jungen Männer grösstenteils in Österreich bereits einen Asylantrag gestellt hatten, reisten sie durch die Schweiz nach Frankreich oder England weiter. Anfang Januar 2022 lagen die illegalen Einreisen bereits bei ungefähr 60 Migranten pro Tag, wobei zu den afghanischen Staatsangehörigen zunehmend Personen aus Tunesien, Marokko, Syrien, Indien und Pakistan dazu kamen. Diese illegalen Einreisen stiegen kontinuierlich an. Bei den meisten migrierenden Personen handelte es sich um junge Männer, welche die Schweiz als Transitland in Richtung Frankreich oder England benutzten. Eine behördliche Bearbeitung einer solch hohen Zahl an Migranten war mit den zu diesem Zeitpunkt gegebenen Regelstrukturen nicht mehr möglich. Aus diesem Grund wurde das vorgängig vom BAZG und der Kantonspolizei St.Gallen erarbeitete Konzept “Refugio” aktiviert, welches auf den Erkenntnissen der Migrationslage 2015/16 basiert. Der Fokus der behördlichen Anstrengungen lag hierbei auf einer tagfertigen, rechtmässigen und menschenwürdigen Bearbeitung der illegal eingereisten Personen.

In der ersten Phase wurden dazu die Vorbereitungen sowie der Aufbau eines provisorischen Bearbeitungszentrums (POB) in Buchs vorangetrieben. Dafür wurden die Prozesse und Abläufe in einer Stabsorganisation unter der Leitung der Kantonspolizei St.Gallen und der Beteiligung des Migrationsamts, dem Amt für Militär und Zivilschutz, dem Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit sowie des Gesundheitsdepartements lanciert. Diese Arbeiten wurden vom Hochbauamt und dem Sicherheits- und Justizdepartement unterstützt.

Während in der zweiten Phase das BAZG die volljährigen Migranten mit einer Wegweisungsverfügung belegte, wurden minderjährige Migranten in eine Unterkunft überführt, um innerhalb von 48 Stunden das Dublin-Verfahren anstossen zu können. Sowohl die voll- wie auch die minderjährigen Personen setzten danach ihre Reisen in Richtung Frankreich und England fort, bevor auch nur ein einziges Dublin-Verfahren angestossen werden konnte. Lediglich ein ganz geringer Teil nutzte die Möglichkeit eines Asylantrags.

Mit der Inbetriebnahme des POB Ochsensand am 3. Januar 2022 konnte das Ziel einer tagfertigen Bearbeitung der Migranten erreicht werden. Nach der Bearbeitung wurden sie in je einer Unterkunft für Jugendliche und Erwachsene zur Fortsetzung des Dublin-Prozesses untergebracht. Eine zusätzliche Notschlafstelle in Buchs gewährleistete die Unterbringung von Personen, welche in der Nacht ankamen.

POB Ochsensand

Mit der elektronischen Zwei-Finger-AFIS-Überprüfung (automatisiertes Finger-Identifikationssystem) wurde vom BAZG geprüft, ob die betreffende Person zur Fahndung oder Verhaftung im SIS (Schengen-Informationssystem) ausgeschrieben war. Anschliessend erfolgte in einem weiteren Kontrollschritt im POB die deutlich aufwändigere elektronische Zehn-Finger-Eurodac-Abfrage. Diese entschied folglich darüber, ob die betroffene Person mit einem positiven Resultat im Dublin-Verfahren unterschriftlich befragt und durch das Migrationsamt mit einem Dublin-Rückübernahmeverfahren beim Staatssekretariat für Migration (SEM) beantragt werden musste. Bei einem negativen Abfrageresultat mussten die behördlichen Arbeiten hingegen auf das Rückübernahmeverfahren mit Österreich und Liechtenstein ausgerichtet werden. Für die nötigen Befragungen standen Dolmetscherinnen und Dolmetscher zur Verfügung. Minderjährige Personen erhielten dabei einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin des Hilfswerks der Evangelischen-Reformierten Kirche Schweiz (HEKS) als Beistand. Samariter des roten Kreuzes stellten vor Ort sowohl ein Corona-Screening als auch die medizinische Erstbeurteilung und Notversorgung sicher.

Die in die Unterkünfte überführten Personen setzten jedoch noch vor der Fortsetzung des Dublin-Verfahrens ihre Reise in Richtung Frankreich fort. Diese Dublin-Out Verfahren konnten folglich vom SEM nicht mehr weiterbearbeitet werden, weil mit dem Fristablauf durch die fehlende Anwesenheit die Gefahr der schweizerischen Zuständigkeit drohte. Weil trotz aller Bemühungen der Behörden die Transitmigration nicht gestoppt werden konnte, wurde der Betrieb des POB am 10. März 2022 eingestellt.

Nachdem der Betrieb des POB eingestellt worden war, erfolgte ein weiterer Prozesswechsel. Wie zuvor wurden Migranten, die in der Schweiz um Asyl ersucht hatten, dem Bundesasylzentrum Altstätten zugewiesen. Die volljährigen wie auch die minderjährigen Personen wurden nach der Sicherheitskontrolle durch das BAZG in eine Unterkunft überführt, um innerhalb der folgenden 48 Stunden das Dublin-Verfahren beginnen zu können. Sowohl die voll- wie auch minderjährigen Migranten setzten jedoch weiterhin ihre Reise in Richtung Frankreich und England fort, ohne dass nur ein einziges Dublin-Verfahren angestossen werden konnte. Folglich wurden auch diese Massnahmen per Ende Juli 2022 eingestellt. Seitdem können Migranten nach der Sicherheitskontrolle durch das BAZG weiterreisen, sofern sie über 14 Jahre alt sind, nicht zur Fahndung (im RIPOL oder SIS) ausgeschrieben sind und keinen Asylantrag in der Schweiz stellen. Andernfalls erfolgt eine Übergabe an die Kantonspolizei St.Gallen zur weiteren Bearbeitung.

Die Bemühungen der involvierten Behörden haben gezeigt, dass die behördenübergreifende Zusammenarbeit und die eingeführten Prozesse einwandfrei funktioniert haben. Der personelle und finanzielle Aufwand war sehr gross. Operativ limitierend waren dabei vor allem die Verfügbarkeiten von Dolmetscherinnen und Dolmetschern sowie die Kapazitäten im Bereich der aufwändigen Eurodac-Abklärungen. Es zeigte sich aber auch deutlich, dass sowohl das Dublin- als auch das trilaterale Rückübernahmeabkommen mit Österreich und Liechtenstein im Zusammenhang mit der vorliegenden Transitmigration nicht funktionieren können. Dies, weil die illegal einreisenden Migranten einerseits für ein mehrwöchiges Dublin-Verfahren nicht festgenommen werden können, andererseits die dafür notwendigen Kapazitäten und Ressourcen nicht zu realisieren sind und unverhältnismässig wären. Diese Situation führte im Herbst 2022 folglich zu einer gewissen Sog-Wirkung, stiegen doch die Einreisezahlen teilweise auf über 1’000 Einreisen pro Woche.  Dieser Trend setzte sich jedoch wie erwartet über den folgenden Winter 2022/23 nicht mehr fort. Die Einreisezahlen sanken auf die Vorjahreswerte 2021/22. Ohne griffiges Abkommen mit Österreich werden die behördlichen Massnahmen ihre Wirkung nicht entfalten können. Auf Stufe Bund sind nun mit einem angestossenen Aktionsplan sowie Gesprächen und Verhandlungen mit Österreich und der Europäischen Union weitere Bemühungen lanciert worden, um die Transitmigration durch die Schweiz zu stoppen.