Die Entwicklung der Polizei hin zu Intelligence-led Policing

Seit es Menschen gibt, gibt es Kriminalität. Die Etablierung von gesellschaftlichen Normen, Moral und Ethik führte dazu, dass fehlbares Verhalten geahndet wurde. Daraus resultierte die Entstehung der Polizei. Sie ist in ihrem heutigen Erscheinungsbild, nebst demografischen und kulturellen Veränderungen, auch durch verschiedene Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung geprägt. Eine analysebasierte Polizeiarbeit ist dabei nicht mehr wegzudenken.

Die Polizeitätigkeit, wie sie oft von der Bevölkerung wahrgenommen wird, entspricht dem sogenannten Standardmodell der Polizeiarbeit. Dieses besteht grösstenteils aus der Patrouillentätigkeit, dem Intervenieren anlässlich verschiedener Ereignisse sowie Ermittlungsaufgaben zur Klärung von Straftaten. Um die Kriminalitätsreduktion noch effizienter zu machen, versucht die Polizei, durch die Analyse der vorhandenen Daten spezifische Probleme zu identifizieren und mittels zielgerichteten Massnahmen zu beheben. Als theoretische Grundlage wird dabei die Routine-Aktivitäts-Theorie beigezogen. Diese besagt, dass ein Delikt passiert, wenn in einer günstigen Situation eine motivierte Täterschaft auf ein geeignetes Ziel in Abwesenheit eines fähigen Beschützers trifft. Einfacher gesagt und angelehnt an ein wohl sehr bekanntes Sprichwort: “Gelegenheit macht Diebe.” Wird diese Gelegenheit eingeschränkt oder komplett verhindert, erschwert sich die Begehung einer Straftat oder wird gar unmöglich.

Der Nutzen dieser problemlösungsorientierten Polizeiarbeit ist offensichtlich. Dementsprechend ist das Ziel, eine solche Vorgehensweise auf die gesamte Organisation auszuweiten und auf die Management-Stufe zu heben. Dadurch entsteht eine analysebasierte Polizeiarbeit, welche auch als intelligence-led policing (ILP) bezeichnet wird. Dabei steht “intelligence” für die aus der kriminalistischen Datenanalyse erlangten Erkenntnisse. Dazu gehört zum Beispiel, wo und wann Täterinnen oder Täter ihre Delikte begehen und wie sie dabei vorgehen. Diese Erkenntnisse werden im Anschluss als objektive Entscheidungsgrundlage zur Steuerung (“led”) von proaktiven polizeilichen Tätigkeiten (“policing”) verwendet. Der Vorteil von ILP liegt darin, dass gezielter und wirksamer auf erkannte (kriminalpolizeiliche) Probleme eingegangen werden kann. Des Weiteren kann dadurch strukturiert vorgegangen werden, was ressourcenschonender ist – ein wichtiger Anspruch der heutigen Zeit. Das Modell intelligence-led policing stammt ursprünglich aus Grossbritannien und findet immer mehr Anklang in westlichen Polizeiorganisationen. So wird ILP auch in der Strategie des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) zur Kriminalitätsbekämpfung 2020-2023[1] prominent aufgeführt.

Auch die Kantonspolizei St.Gallen möchte in Zukunft vermehrt auf ILP setzen und ihre Tätigkeiten mithilfe der analysebasierten Polizeiarbeit steuern. Schon heute werden im Bereich der Kriminalitätsaufklärung und -bekämpfung die verschiedenen Delikte klassifiziert, ausgewertet und analysiert. Das geschieht mit dem Ziel, Verbindungen und Serien zu erkennen. Somit können die durchgeführten Ermittlungen von den erkannten Fallzusammenhängen profitieren und zielgerichteter vorgehen. Doch all diese Erkenntnisse über die Begehung von Straftaten ermöglichen es auch, Massnahmen und Vorgehensweisen zu definieren, welche darauf abzielen, der Kriminalität oder auftretenden Problemen vorzubeugen und diese zu verhindern. Das bedeutet, nicht nur Repression im Sinne der Strafverfolgung, sondern auch Prävention zu betreiben.

Von der Repression zur Prävention

Wie aus dem vorherigen Abschnitt hervorgeht, kommt der Prävention dank moderner Polizeimodelle wie ILP eine wichtige Rolle in der Kriminalitätsreduzierung zu. Dass Prävention keine neuzeitige Feststellung ist, wird mit der Aussage von Sir Richard Mayne, dem ersten Commissioner der London Metropolitan Polizei, aus dem Jahr 1829 deutlich. Dieser sagte, dass das primäre Ziel einer effizienten Polizei die Vorbeugung von Straftaten sei. Erst danach erfolgen die Aufklärung sowie die Bestrafung der Täterschaft, wenn dann doch eine Straftat begangen worden sei.

Trotzdem führte die gesellschaftliche Entwicklung zur Ansicht, dass auf begangene Straftaten reagiert und diese repressiv verfolgt werden sollten. Auch kann die Repression im Gegensatz zur Prävention viel einfacher gemessen werden, was gerade im politischen Umfeld dazu führte, dass die traditionelle Strafverfolgung stark zunahm. Doch diese deckt nur diejenigen Delikte ab, welche den Behörden bekannt sind. Das bedeutet, dass ungemeldete Straftaten oder Probleme durch die Polizei nicht repressiv bearbeitet werden können und somit eine grosse Dunkelziffer bilden. Wenn wir uns jedoch an die Worte von Sir Richard Mayne zurückerinnern, soll das erste Ziel der Polizei das Vorbeugen von Delikten sein. Die Prävention hat den grossen Vorteil, dass sie auch Straftaten oder Probleme zu verhindern versucht, welche im Nachgang erst gar nicht gemeldet werden würden. Die erlangten Erkenntnisse aus der polizeilichen Kriminalanalyse ermöglichen es zusätzlich, konzentrierter im Voraus auf die Kriminalität einzuwirken. Somit rückt die Prävention als wirksame Methode zur Reduzierung von Delikten und Problemen wieder vermehrt in den Vordergrund.

Es stellt sich nun die berechtigte Frage, wie eine effiziente Kriminalprävention genau funktioniert. Um dies zu beantworten, muss sich nochmals die Routine-Aktivitäts-Theorie vors innere Auge geführt werden. Daraus lassen sich drei zentrale Elemente entnehmen: Täter, Opfer (oder Ziel) und Situation. Diese drei Elemente bilden in der Kriminalitätstheorie das berühmte Kriminalitätsdreieck (siehe Bild unten). Wenn alle Seiten zusammenkommen, entsteht ein Dreieck und es kann zu einem Delikt kommen. Wird nun allerdings eine Seite beeinträchtigt oder komplett entfernt, gibt es kein Dreieck und somit auch kein Delikt. Präventive Massnahmen und Vorkehrungen können auf jeder Seite des Kriminalitätsdreiecks zur Anwendung gelangen. Eine der bekanntesten Formen der Prävention ist die situative Kriminalprävention, welche versucht, die Gelegenheit einer Straftat zu verkleinern. Dazu zählt man unter anderem den Aufwand zu vergrössern, das Risiko zu erhöhen, den Nutzen zu senken oder den Auslöser zu verringern.

Bild: Das Kriminalitätsdreieck; Wird eine Seite beeinträchtigt oder komplett entfernt, gibt es kein Dreieck und somit auch kein Delikt.

Wie wird dies nun in der Praxis umgesetzt? Nehmen wir als Beispiel einen Täter, welcher aus einem geparkten Auto eine sichtbar deponierte Handtasche klauen will. Ist das Auto unverschlossen, ist dies eine sehr günstige Gelegenheit und der Täter kann ohne Aufwand die Tür öffnen, die Handtasche herausnehmen und verschwinden. Alle drei Elemente treffen ohne Einschränkungen aufeinander. Ist nun aber das Fahrzeug verschlossen, wird auf der Seite “Situation” eine Hürde eingebaut, welche der Täter zuerst überwinden muss (= Aufwand wird vergrössert). Dies führt dazu, dass dieses Delikt schwerfälliger wird und entsprechend weniger vorkommt.

Diese wichtige Bedeutung der Prävention erkannte auch die Kantonspolizei St.Gallen. Folglich wurde das Projekt “Prävention”, welches sich über die gesamte Organisation erstreckt, gestartet. Im Zentrum steht dabei, wie die Kantonspolizei St. Gallen zukünftig noch effizienter Prävention betreiben kann, in welchen Bereichen diese eingesetzt werden soll und mit welchen Partnern zusammengearbeitet werden muss. Dies auch im Hinblick auf einen gezielten und schonenden Ressourceneinsatz innerhalb einer zeitgemässen Polizeiorganisation.

Digitale Transformation und crime disruption

In den letzten Jahren schritt die Digitalisierung enorm voran und veränderte unsere Lebensweise stark. Online-Shopping, Online-Marktplätze und digitale Geldüberweisung gehören zum Alltag, wie leider auch die stetig zunehmende Cyberkriminalität. Ohne physische Grenzen können Kriminelle via Internet überall auf der Welt in kurzer Zeit eine Vielzahl an Delikten verüben. Dies stellt die Strafverfolgungsbehörden vor neue Herausforderungen. Immer komplexer werdende Ermittlungsverfahren sind notwendig, um die Identität der Täterschaft zu eruieren. Da die digitalen Spuren oft ins Ausland führen und die initiierten Rechtshilfeersuchen leider oft nicht die gewünschten Resultate erzielen, kann nur ein Bruchteil der agierenden Täterschaft identifiziert werden. Noch kleiner ist demzufolge auch die Anzahl Straftäterinnen und Straftäter, welche dem Schweizer Rechtssystem zugeführt werden können. Man erkennt deutlich, dass der eingesetzte Ressourcenaufwand im Bereich der digitalen Kriminalität eigentlich nicht mehr mit dem gewünschten Ertrag der Repression übereinstimmt.

So muss der Fokus auch im Cyberbereich auf die Prävention gelegt werden, denn auch hier können mit geeigneten Massnahmen potenzielle Gelegenheiten gesenkt werden, um dadurch die Cyberkriminalität zu reduzieren. Dank den vorhandenen Daten kann die Analyse von kriminellen Vorgehensweisen im digitalen Raum spezifische Muster und mögliche Interventionspunkte für präventive Methoden erkennen. Diese können, gemäss dem Prinzip von intelligence-led policing, in proaktive Tätigkeiten zur Reduzierung oder Störung der digitalen Kriminalität umformuliert werden. Die gezielte, vorbeugende Störung der Kriminalität wird als crime disruption bezeichnet.

Neue Ansätze in der Kriminalitätsreduktion sind also gefragt. Daher wird auch innerhalb der Kantonspolizei St.Gallen ein wissenschaftliches Forschungsprojekt im Rahmen einer Doktorarbeit betrieben. Ziel ist es, zu untersuchen, wie durch analysebasierte polizeiliche Erkenntnisse ein crime-disruption-Ansatz zur Unterbrechung der digitalen Kriminalität entwickelt werden kann. Dieses Konzept fokussiert sich dabei auf die Kriminalität mit Bezug zu Online-Marktplätzen. Wie und in welcher Form diese Vorgehensweise zukünftig genau angewandt werden kann, wird sich im Rahmen dieser Forschungsarbeit zeigen. Was man indes schon sagen kann, ist, dass der Bereich der Prävention sowie der proaktiven Störung der Kriminalität die zukünftige Arbeitsweise einer modernen Polizeiorganisation prägen wird.


[1] Für weitere Informationen siehe LINK

Ergänzende Informationen / Literatur zur Thematik

Dupont, B., Amicelle, A., Boivin, R., Fortin, F., & Tanner, S. (2021). L’avenir du travail policier. Presses de l’Université de Montréal. 

Clarke, R. V., & Eck, J. E. (2005). Crime Analysis for Problem Solvers in 60 small steps. U.S. Department of Justice. 

Ratcliffe, J. (2008). Intelligence-led policing. Willan Publishing.